Occupy possibilities – reflections on OCCUPY, art and activism (GERMAN)

Einleitung

Einige politische Aktivisten haben ideologische Inkoheränz und Fehlen eines konkreten Programms bei der Occupy Wall Street Bewegung als irritierend oder gar als Schwäche empfunden. Andere sahen in der Aktion, die ohne bekannte Organisationsform und ohne die gewohnten Aufrufe zur Mo- bilisierung entstand, nur harmloses Straßentheater.1

where to go - hand made sign posted on street lamp in kassel germany. photo by ian pollock
hand made sign posted anonymously on street lamp in kassel germany.
photo by ian pollock

In diesem Artikel möchte ich eine andere Sicht der Dinge vorstellen. Wenn man die Occupy Bewegung als culture jamming, als Aktionskunst begreift, die sich einer eindeutigen Interpretation entzieht, dann stand die Occupy Bewegung in der Tradition vieler guter Kunstwerke und ermöglichte ganz unterschiedliche Sichtweisen. So blieb die Occupy Bewegung interessant und Denkprozesse aus. Sie war in den Diskussionen und Medien in Amerika und der Welt präsent. Gerade weil die Occupy Bewegung anscheinend keine klaren Forderungen hatte, veränderte sie die nationale Debatte tiefgreifend.

Die  Mehrdeutigkeit  Aktionen  der  Occupy  Bewegung, die verweigerte Antwort auf die Frage „Was ist unsere eine einfache Forderung“, die fehlende Führung zugunsten eines Polylogs und einer Meinungsvielfalt auf Seiten der Teilneh- mer und der Beobachter: All das sorgte dafür, dass sich viele Stimmen Gehör verschaffen konnten. Bisweilen schienen sich diese Stimmen sogar zu widersprechen. Während einige eine radikale Veränderung des Wirtschaftssystems forderten und vom Ende des Kapitalismus sprachen, traten andere für eine Reform der Politik und des Finanzsektors ein.

Context/culture jamming etc.

Occupy Wall Street begann am 17. September 2011 im Zuccotti Park, der im New Yorker Bankenviertel nahe der Wall Street liegt. Wie ein Mem breitete sich Occupy schnell über die ganze USA und den Globus aus. Aufgrund einiger Berichte kann man davon ausgehen, dass ad hoc Camps in den größeren Städten von 82 Staaten organisiert wurden.

Es dauerte einige Zeit, aber dann fingen die Teilnehmer in den Camps an sich zu organisieren und Treffen abzuhalten, auf denen viele der mittlerweile bekannten Forderungen aus- formuliert wurden. Anders als politische Bewegungen blieb die Occupy Bewegung im Wesentlichen ohne Führung. Teilnehmer an der Occupy Bewegung kommunizierten zwar mit der Öffentlichkeit; aber sogar als Slogans wie „Wir sind die

99%“ immer populärer wurden, blieben Vielfalt und unter- schiedliche Meinungen ein Kennzeichen der Besetzungen. Es gab entschieden antikapitalistische Stimmen, die linksgerich- tete Politik vergangener Bewegungen wiederbelebten. Andere verlangten eine striktere Kontrolle des existierenden kapita- listischen Systems.

Die Occupy Bewegung ist culture jamming. Der Begriff „culture jamming“ wird der Band Negativeland zugeschrieben, die 1984 den Begriff geprägt hat. Er geht auf die Idee des radio jamming zurück (dabei werden öffentliche Frequenzen gekapert, um sie entweder für unabhängige freie Kommunikation zu nutzen oder nur um den offiziellen Diskurs zu stören).

Culture jamming als Kunststrategie enthüllt fragwürdige politische Annahmen als Grundlage kommerzieller Kultur, indem falsche oder verwirrende Signale in Form von falschen Ankündigungen oder Presseverlautbarungen verbreitet wer- den oder indem Konsumartikel verändert werden.

Der Begriff geht zwar auf Negativeland zurück, aber cul- ture jamming als Strategie des kulturellen Widerstands gibt es schon länger. Er taucht in den Fotomontagen John Heartfields auf, auch in den Filmen und auf Plakaten von Projekten der Situationistischen Internationale, auf den durch die billboard liberation front verfremdeten Werbeplakaten, den veränderten Puppen der Barbie liberation front und den Identitätskorrekturen (identity corrections) der Yes Men.

Culture jamming hat mit dem kanadischen Magazin Adbusters sogar seine eigene Zeitschrift, die immer wieder Kampagnen startet, mit denen die verbreitete Konsumkultur in Frage gestellt wird. Sie soll die erste vage Idee für die Be- wegung entwickelt haben, aus der dann Occupy Wall Street wurde. Die Anfänge von Adbusters gehen auch auf das First Things First Manifest zurück, unter dem sich Grafikdesigner zusammengefunden haben. Sie vertreten die Ansicht, dass

„die Konsumgesellschaft gegenwärtig unangefochten exis- tiert; sie muss durch neue Sichtweisen herausgefordert wer- den, und zwar auch über die visuelle Sprache und die Gestal- tungskraft des Designs.“

Am 13. Juli 2011 verschickte die kanadische Zeitschrift Adbusters den folgenden Auszug an alle Empfänger auf ih- rer E-Mail Liste: „Am 17. September wollen wir sehen, wie

20.000 Menschen nach Manhattan strömen, Zelte und Kü- chen aufbauen und friedliche Barrikaden errichten und ein paar Monate lang Wall Street besetzen. Wenn wir einmal dort sind, werden wir eine einfache Forderung mit einer Vielfalt von Stimmen ohne Unterbrechung wiederholen. Tahrir war nicht zuletzt erfolgreich, weil das ägyptische Volk ein deutli- ches Ultimatum – „Mubarak muss gehen“ – wieder und wie- der stellte, bis es gewonnen hatte. Wenn wir diesem Beispiel folgen, was ist unsere genauso griffige Forderung?“

Der Erfolg von Occupy kann teilweise auf eine geniale Markenbildung und Marketing zurückgeführt werden. Es war ein einziges Wort: ein Aufruf zum Handeln – ein Verb zum Mobilisieren – ein Aufruf zur Demonstration – es beschrieb die Aktion selber – es beschrieb das Phänomen, dessen Zeuge man wurde. Occupy Wall Street kann auch als eine massive Zusammenarbeit im Sinne von culture jamming verstanden werden. Es war ein solches Störmanöver, dass das Wort „oc- cupy“ eins der weltweit am meisten gebrauchten Wörter von 2011 und 2012 wurde.

Durch Denken versuchen Menschen, die Welt zu verste- hen. Das Gehirn ist ein Filter, der die Dinge in der Welt wahr- nimmt, deren bestimmende Merkmale herausarbeitet und nach dem wesentlichen und konstanten Wert dieser Dinge sucht. Unsere Erkenntnis der Welt darf sich also nicht nur auf die Fakten stützen, die wir beobachten, sondern auch auf die Art und Weise, mit der das Gehirn diese Fakten verarbeitet.

Occupy Wall Street war deut- lich sichtbar, strahlte in die ganze Welt  aus,  zu  groß  um  ignoriert zu werden. Wer damit konfron- tiert wurde, begann nachzuden- ken, über das Zählbare, Sichtbare, Greifbare. Wenn man all das zu- sammenfügte, handelte es sich in der Tat um eine Besetzung durch- geführt von einer großen Anzahl Menschen. Schon der Name der Aktion drückte es aus. Auch der Grund, warum das passierte, war mehr oder weniger klar – die Wirt- schaft war in einer miserablen Ver- fassung und etwas, irgendetwas musste getan werden.

Aber niemand schien zu wis- sen, welche Forderungen die Be- setzer eigentlich stellten, oder genauer gesagt, jeder schien et- was anderes zu wissen. Auch die Massenmedien, deren Aufgabe es ist, uns die Welt näher zu bringen und uns zu helfen sie zu verstehen, standen dem Phänomen ratlos gegenüber. Schlimmer noch: die Zeit verging, aber die Mehrdeutigkeit nahm nicht ab. Dieses Spannungsverhältnis zwischen dem deutlich Sichtbaren und dem Undefinierbaren schuf das einzigartige Medienereignis genannt Occupy Bewegung. Dass die Diskussion sich weiter entwickelte, lag nicht zuletzt da- ran, dass es keine Etiketten gab, keine bekannten Ideologi- en, und dass eine einfache Einsortierung in eine vorhandene Schublade sich als unmöglich herausstellte.

Zuweilen sehen wir in den Massenmedien wie z.B. Zei- tungen, Fernsehen oder Radio eine Art Erweiterung unserer Sinne. Wir glauben, dass sie das einfangen, was wichtig für uns ist und dass sie uns helfen zu verstehen. Als die Medi- en jedoch versuchten darzustellen, worum es bei der Occupy Bewegung überhaupt ging, wurde immer deutlicher, dass es keine allgemeingültige Antwort gab.

Vielleicht können wir hier einen Zusammenhang mit der Art Medien sehen, die ein Ereignis auf einen einzigen Infor- mationsstrom reduzieren, z.B. in einer Radiosendung oder in einem Zeitungsartikel, und das Ergebnis dann an viele Men- schen und an etablierte politische Bewegungen weitergeben, die eine vereinheitlichte Stimme haben, die im Namen der Massen spricht. Jetzt spulen wir zum Jahr 2012 vor und sehen neu entstandene Medien – Ustream, Twitter, Facebook – ein Zeitalter der Kommunikation vieler mit vielen. Neue Medien, die eine Vielzahl von Stimmen einer Bewegung repräsentieren, die unterschiedliche Forderungen hat. Occupy Wall Street war ein Ereignis vieler für viele, ohne Führung, nicht durch den Kampf für eine Sache vereint, sondern ein Widerstand gegen einen bestehenden Zustand.

Vielleicht können wir auch einen Zusammenhang zwischen der Occupy Bewegung und einem Kunstwerk sehen, das  sich  einer  eindeutigen  Interpretation entzieht und statt- dessen für Vieldeutigkeit und Meinungsvielfalt steht. Occupy Wall Street war ein Kunstwerk, das durch den Teilnehmer und den Beobachter vollendet wur- de. Es gab genug Raum für je- den, die Aktion in seinem Sinne zu interpretieren. Individuelle Ideen und ureigene Deutung konnten aus der Aktion hervor- gehen, und es gab keine fest umrissene Idee am Anfang der Aktion.

Schlussbetrachtung

Vieldeutigkeit wird manch- mal als fehlende Sicherheit beschrieben oder als Ergebnis begrenzten Wissens, als Unmöglichkeit, einen existieren- den   Zustand zu beschreiben oder als eine mögliche Entwicklung in der Zukunft, oder dass mehr als ein einziges Ergebnis möglich ist.

Der Verstand ist das Instrument des Menschen, mit dem er die Welt erklärt. Er ist ein Filter, der die Dinge in der Welt wahrnimmt, die wesentlichen Merkmale der Dinge in der Welt extrahiert und nach den wesentlichen und konstanten Werten dieser Dinge sucht. Unsere Erkenntnis der Welt darf sich also nicht nur auf die Fakten stützen, die wir beobachten, sondern auch auf die Art, mit der das Gehirn diese Fakten verarbeitet.

In dem Artikel „The neurology of ambiguity”2 spricht Semir Zeki über Ambiguität in der Kunst. Ambiguität ist nicht gleichzusetzen mit Unsicherheit bei der Deutung, sondern sie ist eher die rasche Folge von Gewissheiten „auf bewusster Ebene – die Gewissheit von vielen, gleichermaßen plausiblen Interpretationen, von denen jede zutrifft, sobald sie das Stadi- um des Bewussten erreicht.“

Er fährt fort, dass „jede Interpretation … ebenso zutreffend ist wie die anderen Interpretationen, und dass es keine richtige Interpretation gibt. Daher ist Vieldeutigkeit die ande- re Seite von Beständigkeit.“

Zeki stellt fest, dass dieser konstante Wechsel zwischen mehr als einer von vielen gleichermaßen gültigen Sichtweisen das Kennzeichen großer Kunstwerke ist. Seine neurologischen Forschungen könnten nahelegen, dass das an der Art von Gehirnaktivität liegt, die beim Betrachten entsteht.

In einer Studie3  von Martina Jakesch und Helmut Leder wird Vieldeutigkeit in Verbindung mit Interessantheit grafisch dargestellt. Heraus kam eine umgekehrte Uförmige Funkti- onskurve, die die Autoren mit Berlynes Erregungstheorie korrelieren.

Die Occupy Bewegung hat die Frage „Was ist unsere eine wichtige Forderung?“ nicht beantworten wollen und hat damit nicht nur bei den Teilnehmern die Suche nach einer Antwort angeregt, sondern was noch wichtiger war, auch bei den Beobachtern. Die fortgesetzte Suche nach einer Antwort ermöglichte es die Occupy Bewegung, die Debatte wach zu halten und hatte zur Folge, dass sich eine Vielzahl politischer Plattformen entwickelte. Vor allem die Debatte um eine straf- fere Regulierung der Banken und die Debatten um Kapitalerträge, Steuersätze und die so genannten 99%. Die Debatte

über gesellschaftliche Klassen und Reichtum, die in den USA von 2010 nicht einmal angedacht werden konnte, ist jetzt zum Bestandteil der nationalen Debatte geworden und wird in den Wahlen von 2012 eine wichtige Rolle spielen.

Wenn wir den Mangel an ideologischer Klarheit und Iden- tifizierung in der Occupy Bewegung sehen und feststellen, dass die Frage nach der einen gemeinsamen Forderung nicht beantwortet wurde, dann mag die Spekulation darüber erlaubt sein, warum Occupy Wall Street die Aufmerksamkeit und die Fantasie so vieler Menschen und nicht zuletzt der Medien er- reichen konnte.

Es könnte auch erklären, warum die beiden Strategien, nämlich physisch aus dem sichtbaren Umfeld entfernt zu werden oder offiziell durch die Documenta art bienale [sic] oder zivilgesellschaftliche Organisationen sanktioniert zu werden, letztlich Interesse und Aktivitäten zum Versiegen bringen konnten. Durch die Überführung der Vieldeutigkeit von „Was ist occupy?“ in eine reine Oppositions- und Protestbewegung ließ die Neugier der Öffentlichkeit nach und in der Folge auch die Berichterstattung der Medien über die Bewegung.

Vielleicht muss die Frage „Was ist unsere eine Forderung“ jetzt umformuliert werden in „Was wird unsere nächste große Aktion?“

1  3. Mai 2012 Deciphering the Occupy Wall Street Movement By Robert Weissberg. http://www.americanthinker.com/2012/05/decip- hering_the_occupy_wall_street_movement.html

2 “The neurology of ambiguity” Consciousness and Cognition 13 (2004) 173–196. Semir Zeki

3 “Finding meaning in art: Preferred levels of ambiguity in art appre- ciation” Experimental Psychology (November 2009); 62 (11): 2105– 2112. Martina Jakesch and Helmut Leder

Ian Pollock ist ein digital arbeitender Medienkünstler mit Abschlüssen zu Fine Art in New Media des San Francisco Art Institute und Berkeley. Er lehrte bisher in den USA, im Libanon, Ägypten und in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Er hat national und international ausgestellt.

Seine Arbeitsmappen sind abrufbar auf: http://www.biasmap.org, http:// www.GuerillaGrafters.org, das gerade als Teil von http://www.spontaneus interventions.org in der 13. Architekturbiennale in Venedig ausgestellt wird.

Übertragung aus dem Englischen von Manfred Pegam, Bochum

Für eine weitere Analyse der US-Occupy-Bewegung empfehlen wir englisch- sprechenden LeserInnen:  http://www.solidarity-us.org/site/node/3663